Alter und Auge - Versorgungssituation
„Warum hat mir meine Augenarztpraxis das noch nicht gesagt?“ Diesen bitteren Vorwurf hören Berater von seheingeschränkten Menschen häufig, wenn diese ein für sie wichtiges Hilfsmittel oder Angebot kennenlernen. Es ist nicht aufwendig, Patient*innen auch zu nicht-medizinischen Themen zu informieren, jedoch ist Hilfe in diesem Bereich bisher nicht etabliert.
Je älter die Bevölkerungsgruppe ist, desto häufiger kommen Augenerkrankungen vor, welche einen Sehverlust zur Folge haben. Betroffene sind dadurch in ihrer Alltagskompetenz und Alltagsgestaltung oft eingeschränkt. Auch auf psychosozialer Ebene müssen sich die Patient*innen großen Herausforderungen stellen. Neben den Aufklärungen zur Erkrankung und Behandlung sind Hinweise, wie der Alltag mit dem in der Regel fortschreitenden Sehverlust gestaltet werden kann, nicht nur hilfreich, sondern dringend erforderlich. Erhebungen zeigen jedoch, dass Patient*innen schlecht über nicht-medizinische Themen informiert[1] und unzureichend mit Hilfsmitteln[2] ausgestattet sind, und im Alltag unter den Auswirkungen des Sehverlustes leiden[3].
Die Erkrankung als solche sieht man Patient*innen meist nicht an. Durch ihren großen Erfahrungsschatz kompensieren die meisten Betroffenen die Einschränkungen lange Zeit relativ gut. Im alltäglichen Leben fällt es evtl. auf, wenn sie die gewünschte Busnummer nicht erkennen können und bei anderen Wartenden nachfragen oder beim Bezahlen an der Supermarktkasse ihr Portmonee hinhalten, anstatt selbst das entsprechende Geld herauszusuchen. Für diese Menschen ist es wichtig zu wissen, welche Sehhilfen ihnen ermöglichen, bestimmte Sehaufgaben zu erledigen und welche Alltagshilfsmittel und Tricks helfen, häusliche Arbeiten auszuführen. Auch relevant ist, welche Rehabilitationsmaßnahmen zur Verfügung stehen und welche sozialrechtlichen Ansprüche bestehen. Erleben sie allerdings, dass auf ihre besonderen Bedürfnisse keine Rücksicht genommen wird, sie im Alltag etliche Einschränkungen hinnehmen müssen und zunehmend auf Unterstützung angewiesen sind, kann dies körperliche und psychische Folgen haben. Die Depressionsrate unter Menschen mit altersabhängigen Seheinschränkungen ist signifikant erhöht.[4]
Umso wichtiger ist es, Patient*innen bereits in der Augenarztpraxis auf die vielen Möglichkeiten hinzuweisen, dank derer die Selbstständigkeit und die Lebensqualität erhalten bleiben können. Informationen von Seiten der betreuenden Augenarztpraxis haben für Patient*innen eine zentrale Bedeutung, da diese als wichtig eingestuft werden und in der Regel gerne angenommen werden. Die gleichen Informationen aus anderen Quellen, wie Zeitschriften, Fernsehen oder Familie und Freunde werden nicht so hoch gewichtet.
Dabei ist es nicht erforderlich, Patient*innen ausführlich zu informieren und mit ihnen Einzelheiten eines möglichen Hilfsmittels oder eines sozialrechtlichen Anspruchs zu klären. Wichtig für die Patient*innen ist das Interesse seitens der Augenarztpraxis an ihrem alltäglichen Leben und den alltäglichen Schwierigkeiten aufgrund der Sehminderung. Erhalten sie entsprechende Hinweise zu Fachleuten außerhalb der Praxis, ist die Motivation groß, diese Expert*innen aufzusuchen. Im Bereich vergrößernder Sehhilfen funktioniert die Weiterleitung schon recht gut. Gemäß einer kleinen Befragung mit 48 Patient*innen (Visus ≤ 0,3) nutzen die Befragten regelmäßig zwei bis drei Sehhilfen. Besonders auffällig war die große Anzahl der genutzten Bildschirmlesegeräte, 41 % der Befragten nutzten es, bei einem durchschnittlichen Visus von 0,14. In dieser Befragung wurde aber auch deutlich, dass die Kenntnisse zu anderen Themen ausbaufähig waren. Die Hälfte der Befragten nahm im Anschluss eine telefonische Beratung zu verschiedenen Themen in Anspruch und nutzte die Gelegenheit, Kontaktdaten zu Beratungsmöglichkeiten im lokalen Umfeld zu erhalten.
Um die Selbstständigkeit und die Lebensqualität zu erhalten, benötigen Patient*innen mit einem Sehverlust zahlreiche Informationen. Und diese Informationen müssen auf die jeweiligen individuellen Situationen und Bedarfe angepasst sein. Die Angebote sind zahlreich, beispielsweise Zeitunglesen per Tablet, Markierungspunkte an der Waschmaschine, das Ertasten von Münzen, eine gute Beleuchtung, Hörbücherei oder Hörfilme im Fernsehen, Merkzeichen im Schwerbehindertenausweis, das Smartphone als geeignetes Hilfsmittel. Die Bedarfe zu eruieren, Hilfsmittel vorzustellen und auszuprobieren sowie Vor- und Nachteile zu diskutieren, benötigt Zeit und viel Erfahrung. Beratungsstellen für sehbehinderte Menschen sind in den letzten Jahren deutschlandweit entstanden. So gibt es Blickpunkt Auge, Patientensprechstunden, EUTB, die Hotline des AMD-Netz und die Selbsthilfe, die sich dieser Aufgabe widmen. Flyer der lokalen Angebote in der Praxis bereitzuhalten ist eine gute Ausgangsbasis. Noch besser ist es, im Gespräch auf diese Angebote aufmerksam zu machen und diese Flyer persönlich zu überreichen. Manchmal ist dies mehrfach nötig, bis sich Patient*innen auf den Weg machen. Medizinische Fachangestellte können diese Aufgabe gut übernehmen. Sie kommen bei Voruntersuchungen oder Terminvereinbarungen mit Patient*innen ins Gespräch und Betroffene berichten ihnen oftmals von den alltäglichen Schwierigkeiten.
Im Allgemeinen profitieren Patient*innen von einer Beratung, wenn der Visus ≤ 3 ist. Ab diesem Zeitpunkt machen sich die Sehverluste im Alltag bemerkbar und neben Sehhilfen werden erste Hilfsmittel eingesetzt. Zu erleben, dass andere Betroffene auch unter der Situation leiden, dass es Lösungsmöglichkeiten für Alltagsschwierigkeiten gibt und Berater, die sich mit dieser Situation auskennen, schafft Perspektiven für die Zukunft. Denn das Erleben der kontinuierlichen Sehverschlechterung belastet die Patient*innen und lässt sie sorgenvoll in die Zukunft schauen.
Leiten Sie Ihre Patient*innen weiter, beauftragen Sie Ihre Mitarbeiter*innen, Patient*innen zu informieren, finden Sie im Adressverzeichnis des AMD-Netz die nächste lokale oder regionale Beratungsstelle oder geben Sie die Hotline-Nummer des AMD-Netz weiter. Ihre Patient*innen werden dankbar sein, sind doch Selbstständigkeit und Lebensqualität für sie wichtige Aspekte.
Beratungsangebote
[1] Thier/Holmberg (2022)
[2] Vgl. Himmelsbach/Driebold/Oswald (2015), S. 47.
[3] Vgl. Graf (2008)
[4] Vgl. Casten, R.; Rovner, B. (2008)