„Nicht nur den Augeninnendruck ins Ziel fassen“ – Prof. Dr. Carl Erb über die Zusammenhänge zwischen Glaukom und Lebensstil

Die Ursache des primären Offenwinkelglaukoms ist noch nicht bis ins letzte Detail erforscht, doch man weiß heute, dass es eine systemische neurodegenerative Erkrankung ist. Da eine Senkung des Augeninnendrucks nicht bei allen Patienten das Fortschreiten stoppen kann, sucht man nach ergänzenden Therapieansätzen. Prof. Dr. Carl Erb lenkt den Fokus auf die Themen Ernährung und Lebensstil.

© EYEFOX
© EYEFOX

Man weiß heute, dass das primäre Offenwinkelglaukom (POWG) eine systemische neurodegenerative Krankheit ist. Wie hat diese Erkenntnis das Bild der Erkrankung verändert?

Prof. Dr. med. Carl Erb: Sehr maßgeblich, denn wir hatten ja in den letzten 130 Jahren die Vorstellung, dass das POWG eine augeninnendruck-assoziierte Erkrankung ist. Sogar in der neuesten 5. Auflage der „Terminology and Guidlines for Glaucoma“ der European Glaucoma Society werden in der Definition zum POWG der Augeninnendruck neben dem Alter als Hauptrisikofaktoren eingestuft („and major risk factors include the level of IOP and older age“).

Aus den aktuellen Forschungsergebnissen aus der Neurophysiologie und der Biochemie sowie aus den bildgebenden Verfahren wissen wir, dass wir es beim POWG pathophysiologisch vor allem mit einer Neuroinflammation zu tun haben, die durch oxidativen Stress getriggert wird. Das führt zu einer systemischen Neurodegeneration mit Umbauprozessen im Gehirn. Das ist insofern wichtig, weil wir deshalb vom therapeutischen Ansatz her nicht nur den Augeninnendruck ins Ziel fassen dürfen, sondern eben den Patienten insgesamt behandeln müssen. Es gilt auch die Triggerfaktoren für diese Neurodegeneration – Bluthochdruck, Diabetes, Fettstoffwechselstörungen – sehr viel besser zu behandeln. Wir müssen außerdem Therapien entwickeln, die sich ganz gezielt gegen die Entzündungsprozesse wenden, denn sonst wird man diese Patienten langfristig nicht stabil halten können.

Welche Bedeutung hat der oxidative Stress für die Degeneration des Sehnervs?

Der oxidative Stress ist im Grunde genommen der Schlüssel für diese ganze Entwicklung. Wir wissen heute, dass das POWG eigentlich eine Mitochondriopathie ist. Es liegen nachgewiesener Weise mitochondriale DNA-Störungen vor, die dazu führen, dass das Mitochondrium – das eigentliche Kraftwerk der Zelle – nicht mehr richtig funktioniert. Das Mitochondrium hat mehrere Aufgaben. Seine Hauptaufgaben sind zum einen die mitochondriale Atemkette, die dazu führt, dass freie Radikale verstoffwechselt werden. So wird Sauerstoff etwa zu Wasser umgewandelt. Zum anderen wird ATP, Adenosintriphosphat, gebildet. Es wird also ein Energieträger geschaffen, der allen Zellen zur Verfügung stehen muss, damit dort überhaupt aktive Prozesse ablaufen können. 

Die Senkung des Augeninnendrucks stoppt das Fortschreiten des Glaukoms nicht bei allen Patienten. Kann man diese Patientengruppe genauer definieren?

Man muss sehen, dass die meisten bisherigen Studien sich selten speziell auf dieses Thema fokussiert haben. Die Zielsetzung war meist die Augendrucksenkung. Ich glaube, wir brauchen völlig neue Studien, die dieses Feld der neurodegenerativen Betrachtung ins Zentrum stellen, sodass wir hier sehr viel mehr Einblick bekommen. Heute wissen wir, dass kardiovaskuläre Erkrankungen Risikofaktoren sind für die Progression des Glaukoms – unabhängig vom Augeninnendruck. Wir wissen auch, dass bestimmte Therapien die Prävalenz des Glaukoms senken – ebenfalls unabhängig von der Drucksenkung. Statine sind hier ein interessantes Beispiel. Man setzt sie primär ein, um den Cholesterinspiegel zu senken. Allerdings zeigen sie als pleiotrope Effekte eine deutliche antiinflammatorische Wirkung.  Studien haben gezeigt, dass während der Statintherapie die Prävalenz des Glaukoms niedriger ist. Das hat also nichts mit der Drucksenkung, sondern mit der neuroprotektiven Wirkung „Entzündungshemmung“ zu tun. 

Der entscheidende Punkt ist, dass man versteht, dass das POWG im Grunde eine genetisch determinierte Erkrankung ist. Aber ob und wie das Krankheitsbild zum Ausbruch kommt, wird auch über die Epigenetik gesteuert – also all die Einflüsse, die zusätzlich auf den Patienten einwirken. Zum Beispiel Rauchen, die Wohnverhältnisse, in welchem Umfeld man lebt, aber eben auch durch die Systemerkrankungen. Wenn jemand mit einem POWG gesund lebt, keinen Diabetes entwickelt, nicht raucht, sich regelmäßig sportlich betätigt, dann kann es sein, dass er vielleicht gar kein Glaukom entwickelt oder erst sehr, sehr spät. Wenn aber frühe Störungen diese an sich schon beeinträchtigten Gene ungünstig beeinflussen, kann das Glaukom bereits in frühen Lebensjahren auftreten.  Zu diesem Themengebiet gibt es noch einigen Forschungsbedarf.

Was sind die aktuellen Erkenntnisse beim Thema POWG und Mikrobiom des Darms?

Das ist ein spannendes, für die Augenheilkunde relativ neues Thema. Wir wissen schon lange, dass die Zusammensetzung des Mikrobiom des Darms, also die Gesamtheit der dortigen Mikroorganismen, sehr bedeutend dafür ist, wie der gesamte Stoffwechsel im Körper abläuft. Das hängt damit zusammen, dass zum Beispiel die kurzkettigen Fettsäuren über den Darm freigesetzt werden und das Gehirn über diese kurzkettigen Fettsäuren ernährt wird. Wenn hier eine Störung auftritt, ist auch die Hirnernährung beeinträchtigt. Wir wissen auch, dass bestimmte Neurotransmitter über den Darm produziert und ins Blutsystem abgegeben werden und dass auch die Permeabilität der Darmwand eine ganz wichtige Rolle spielt. Wenn sich also das Mikrobiom ungünstig zusammensetzt, kommt es zu Durchlässigkeiten der Darmwand, was zu entzündlichen Reaktionen und damit auch zu Autoimmunmechanismen führen kann. Diese Autoimmunmechanismen können mit dem Auge und dem Gehirn kreuz reagieren, was wiederum dort negative Effekte hat. Zur Verbindung von Mikrobiom und Glaukom lässt sich sagen, dass Bakterien wie Helicobacter pylori beim POWG überproportional häufig vorkommen. Das hat 2015 eine Metaanalyse gezeigt. Helicobacter pylori ist ein gram-negatives Bakterium, was zu einer Undichtigkeit in der Darmwand führt, wodurch es zu einer T-Zellen-Reaktion kommt. Diese T-Zellen wiederum führen im Glaukom-Auge zu einer negativen Reaktion. Das bedeutet, dass wir beim Glaukom sehr viel mehr auf solche Phänomene achten sollten, dass man sich bei chronischen Glaukomen, die progredient sind, durchaus auch das Mikrobiom anschaut. Ist Helicobacter pylori vorhanden? Wenn ja, dann sollte man therapeutisch vorgehen.

Wie steht es um das therapeutische Potenzial der Ernährung beim POWG?

Ich glaube, man muss erst einmal grundsätzlich verstehen, dass sich alle ungünstigen Einflüsse durch die Ernährung natürlich auch negativ auf das Glaukom auswirken können: zu fettes Essen, Fast Food, stark konservierungsmittelhaltige Nahrungsmittel, unreifes Obst oder Gemüse, das zu lang gelagert wurde und kaum mehr Vitamine enthält. Auch die Zubereitung spielt eine große Rolle. Zu langes Grillen oder nicht richtiges Garen zerstört die Vitamine. Wenn man zum Beispiel Dampfgart oder nicht zu heiß kocht, bleiben die Vitamine erhalten. Man sollte auch gebrauchtes Fett nicht wiederverwenden, denn darin sammeln sich sehr viel freie Radikale an, die hoch toxisch und sehr ungünstig sind. Es ist zudem sinnvoll darauf zu achten, möglichst regelmäßig zur gleichen Zeit zu essen, um die Chronobiologie aufrecht zu erhalten. Unregelmäßiges Essen kann zum Beispiel zu einem ungünstigen Einfluss auf das Expressionsmuster von molekularen zirkadianen Oszillatoren nehmen. Probiotika wie Kefir, besonders selbst gemachter, und Olivenöl bzw. eine mediterrane Kost sind zu empfehlen. All diese Faktoren wirkt sich nicht nur positiv auf die Gesundheit an sich aus, sondern eventuell auch auf das Glaukom, weil wir es hier ja wie gesagt mit einem systemisch erhöhten oxidativen Stress zu tun haben. Das viel diskutierte Thema „Gesunde Ernährung“ sollte also auch Glaukom-Patienten stärker ins Bewusstsein gebracht werden. In Zukunft sind hier weitere spezifische Studien notwendig, die sich diesem Thema genauer widmen. 

Was sollten Augenärzte ihren Glaukom-Patienten in Sachen Ernährung und Lebensstil raten?

Wenn man zum Beispiel einen offensichtlich übergewichtigen Patienten oder einen Diabetes-Patienten mit einem zu hohen HbA1c-Wert vor sich sitzen hat, ist es hilfreich, ihm eine Ernährungsberatung nahezulegen. Allein das Ansprechen dieses Themas bringt ganz viele Patienten zum Nachdenken. Es fördert das Bewusstsein, dass man etwas tun sollte. Das ist aber schon auch eine Konfrontation, indem der Arzt etwas anspricht, mit dem der Patient nicht gerechnet hat. Doch wenn ich sie für dieses Thema sensibilisiert habe, bin ich immer wieder erstaunt, wie viele Patienten dann doch anfangen abzunehmen, Sport zu treiben, ihren Lebensstil zu verändern. Ich denke, man muss diesen Patienten immer auch sagen, dass sie mehr auf sich achten sollten, als sie es bisher getan haben. Damit ist oft schon sehr viel gewonnen. 

Prof. Dr. Carl Erb ist Ärztlicher Leiter der Augenklinik am Wittenbergplatz, Berlin.
Er studierte Medizin an der Ruhr-Universität Bochum, der Freien Universität Berlin und am Royal Preston Hospital, England. Von 2005 bis 2011 war er Chefarzt an der Schlosspark-Klinik Berlin, Abteilung Augenheilkunde. Seit langem engagiert sich Prof. Erb in unterschiedlichen Tätigkeitsbereichen der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft zum Krankheitsbild Glaukom, u.a. war Prof. Erb elf Jahre Präsidiumsmitglied der Sektion Glaukom.

Das Interview fand im Rahmen der AAD 2022 in Düsseldorf statt.
Interview: Achim Drucks