Aus den Augen, schnell aus dem Sinn
Das menschliche Sehvermögen ist im Bereich der Fovea centralis am schärfsten. Paradoxerweise können wir diesen Teil des Gesichtsfeldes extrem schlecht aus dem Kurzzeitgedächtnis abrufen, so das Ergebnis einer aktuellen Studie des Hertie-Instituts für klinische Hirnforschung und des Werner Reichardt Centrums für Integrative Neurowissenschaften.
Die neuen Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung sind sowohl für das medizinische Verständnis von Erkrankungen als auch für die technologische Anwendung interessant. Die Forschenden – Professor Dr. Ziad Hafed und sein Team vom Hertie-Institut für klinische Hirnforschung und dem Werner Reichardt Centrum für Integrative Neurowissenschaften der Universität Tübingen – haben ihren Befund in der Fachzeitschrift PNAS publiziert.
„Wir Menschen verlassen uns in hohem Maße auf das foveale Sehen“, erklärt Erstautor Konstantin Willeke. „Das ist der Bereich, auf den wir unseren Blick richten. Hier sehen wir Objekte am schärfsten. Menschen und Gegenstände, die außerhalb unserer Blickrichtung liegen, nehmen wir mit zunehmendem Abstand verschwommener wahr.“
Doch scheinen nicht alle Sehinformationen aus der zentralen Blickrichtung anschließend gut im Gedächtnis zu bleiben. Das stellten die Tübinger Hirnforschenden fest, als sie untersuchten, mit welcher Genauigkeit foveale Bilder im Kurzzeitgedächtnis repräsentiert werden. Sie präsentierten gesunden Versuchspersonen einen kleinen Lichtreiz auf einem Bildschirm. Dieser konnte an ganz unterschiedlichen Stellen erscheinen. Nachdem er verschwunden war, sollten die Personen aus dem Gedächtnis die Position angeben.
Das Ergebnis: Die größten Abweichungsfehler machten die Versuchspersonen bei den Lichtreizen, die im Bereich des fovealen Sehens präsentiert wurden. „Das lässt vermuten, dass die Repräsentation im Kurzzeitgedächtnis stark verzerrt ist,“ so Studienleiter Hafed. „Die Verzerrungen spiegeln wahrscheinlich den Aufbau unseres Sehsystems wider.“
Um eine hohe visuelle Auflösung zu erreichen, würden Sehreize aus der Fovea von einer verhältnismäßig großen Anzahl an Nervenzellen im Gehirn verarbeitet. Ihre mentale Repräsentation sei daher vergrößert. Reize aus den Randbereichen des Gesichtsfeldes würden hingegen von weniger Nervenzellen verarbeitet, ihre mentale Repräsentation sei folglich kleiner. „Orientiert sich die Versuchsperson bei der Gedächtnisaufgabe im mentalen Raum und überträgt die Entfernungen dann auf die Außenwelt, kommt es zu den relativen Abweichungsfehlern“, erklärt Hafed. „Diese sind für foveale Sehreize logischerweise größer als für Sehreize aus der Peripherie.“
Die neuen Erkenntnisse sind hilfreich, um neurologische Erkrankungen besser zu verstehen, bei denen etwa die Körperwahrnehmung gestört ist. Sie sind ebenfalls für den IT-Bereich interessant. So könnten sie helfen, virtuelle Realitäten zu optimieren. Die präsentierten Bilder könnten mithilfe eines Eyetrackers – eines Geräts, das Blickbewegungen aufzeichnet und analysiert – etwa so aufgebaut werden, dass bestimmte Bereiche besser oder schlechter erinnert würden.
„Als Menschen empfinden wir das Sehen als mühelos,“ sagt Hafed. „Das ist aber eine Illusion. Hinter unserem subjektiven Gefühl verbirgt sich eine enorm komplexe rechnerische Verarbeitung im Gehirn.“ Neben Hafed und Willeke waren Dr. Araceli Cardenas und Dr. Joachim Bellet an der Studie beteiligt.
Quelle: Hertie-Institut für klinische Hirnforschung (HIH)
Originalpublikation: Willeke, K.F et al. (2022): Severe distortions in the representation of foveal visual image locations in short-term memory. PNAS 119 (24) e2121860119