Regenerative Medizin, Nachhaltigkeit & Neuerungen beim DOG-Kongress – DOG-Präsident Prof. Gerd Geerling im Interview
Der DOG-Kongress findet endlich wieder als Präsenzveranstaltung statt. Dieses Jahr stehen mit „Regenerative Medizin“ und „Nachhaltigkeit in der Augenheilkunde“ zwei sehr aktuelle Themen im Fokus. Ein Interview mit DOG-Präsident Prof. Dr. Gerd Geerling über spannende Entwicklungen auf dem Gebiet der Stammzellenforschung, den CO2-Fußabdruck des Gesundheitswesens und den neuen „Surgical Saturday“.
Herr Prof. Geerling, ein Schwerpunktthema der DOG 2022 ist die Regenerative Medizin. Wie bildet sich dieses Thema im Kongressprogramm ab?
Prof. Dr. Gerd Geerling: Ganz prominent in den Keynote Lectures zum Thema regenerative Medizin. Wir erwarten exzellente Referenten, die berichten werden, welche Entwicklungen an Hornhaut und Netzhaut in der klinischen Anwendung angekommen sind. Zugesagt haben Robert MacLaren, Oxford, der als erster eine Gentherapie am menschlichen Auge durchführte, und Paolo Rama, Mailand, der den neurotrophen Wachstumsfaktor und das kommerzielle Stammzelltransplantat zur Therapie bei Limbusinsuffizienz mitentwickelt hat. Regenerative Medizin wird aber auch in einem Symposium behandelt, in dem topaktuelle, innovative Ansätze zur Regeneration aus experimentellem und klinischem Blickwinkel diskutiert werden.
Die Regenerative Medizin gehört auch zu Ihren Forschungsschwerpunkten. Was ist auf diesem Gebiet in den nächsten Jahren an Neuem zu erwarten, etwa was die Kornea betrifft?
Die Vergangenheit hat gezeigt, dass – sicher mit langem Atem – aus der zellbiologischen Grundlagenforschung sehr effektive neue regenerative Therapieoptionen entwickelt werden können. In klinischen Studien werden aktuell mesenchymale Stammzellen zur Therapie des trockenen Auges bei Sjögren Syndrom, die Zelltherapie bei Hornhautendotheldystrophie Fuchs, beispielsweise in Kombination mit dem Rho-Kinase-Inhibitor Ripasudil, aber auch neue Substanzen mit neurotrophem Effekt erprobt. Gerade die neurotrophe Keratopathie ist ein schwerwiegendes klinisches Problem, das von dieser Therapieform wahrscheinlich profitieren wird. Gleichzeitig werden bioartifizielle Stroma-Ersatzgewebe etwa zur Behandlung des Keratokonus entweder entwickelt oder sind bereits in der EU zugelassen worden. Dies wäre auch eine gute Nachricht für sich entwickelnde Länder, die über ein weniger gut ausgebautes Netz an Hornhautbanken verfügen.
Und beim Thema Netzhaut?
Auch hier gibt es aktuell viele spannende Entwicklungen. Es wurden bereits erste klinische Studien mit Stammzellen des Pigmentepithels bei altersabhängiger Makuladegeneration oder mit Netzhautprogenitorzellen bei Retinitis pigmentosa durchgeführt. Netzhautneurone können heute aus pluripotenten Stammzellen kultiviert werden. Sie wurden bereits im Tiermodell transplantiert und könnten vielleicht eine Therapieoption für das Glaukom werden. In den USA hat das National Eye Institute 2013 ein 15-Jahresprogramm voller kühner Ziele aufgesetzt - das Programm heißt dann auch bezeichnender Weise „audacious goals initiative“. Ziel ist hier die klinische Translation der Regeneration von Netzhaut-Photorezeptoren und Ganglienzellen bis 2028. Die Tatsache, dass man in diesem Programm bereits chirurgische Instrumente und postoperative Behandlungsstrategien entwickelt, zeigt, wie nah man diesem Ziel ist.
Der zweite thematische Schwerpunkt der DOG liegt auf ökologischer Nachhaltigkeit und Klimawandel. Mit Prof. Ottmar Edenhofer, dem Direktor und Chefökonom des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung, haben Sie einen sehr prominenten Redner für den Eröffnungsvortrag gewinnen können. Wie kam es zu dieser Wahl und worüber wird Prof. Edenhofer sprechen?
Die ökologische Nachhaltigkeit ist ein Thema unserer Zeit, dem die Jugend durch die Protestbewegung „Fridays for Future“ deutlich an Priorität verschafft hat. Mit diesem Problem müssen sich alle gesellschaftlichen Bereiche dringend beschäftigen, also auch wir Augenärztinnen und Augenärzte. Das Potsdamer Institut für Klimafolgenforschung gilt weltweit als ein Top Environmental Think Tank. Professor Edenhofer gilt als einer der Väter des CO2-Preises. Er hat aufgrund seiner Beratungstätigkeit große Kenntnis über Entscheidungsprozesse auf nationaler und internationaler Ebene. Er wird uns in seinem Eröffnungsvortrag zu „Klima, Wirtschaft, Wissenschaft – Herausforderungen 30 Jahre nach Rio“ erläutern, wie wir es schaffen können, in dieser Krise Eigeninteressen zurückzustellen und gemeinschaftlich zu handeln. Uns ist doch allen bewusst, dass ökologische Nachhaltigkeit ein nur gemeinsam erreichbares Ziel ist. Dazu gehören auch wir Augenärztinnen und Augenärzte. Auch wir müssen uns bei diesem Thema einbringen. Ich hoffe, wir werden hier von ihm lernen.
Im Vorfeld der DOG setzen Sie auch persönlich ein Zeichen in Sachen Nachhaltigkeit– mit dem EyeCycle 2022. Was hat es damit auf sich?
Beim EyeCycle handelt es sich um eine Benefizaktion zugunsten der Stiftung Auge. Um deren Initiativen zu mehr Nachhaltigkeit und Klimaschutz zu unterstützen, habe ich mir das Ziel gesetzt, im Rahmen meiner Amtszeit und -tätigkeit als Präsident der DOG möglichst bis zu 1000 Kilometer mit dem Fahrrad statt mit ressourcenintensiveren Beförderungsmitteln zurückzulegen. In diesem Sinne trete ich mehrere „präsidiale Dienstreisen“ und den Weg zum Kongress in Berlin mit dem Rad an. Ich hoffe, mit der Aktion ein Zeichen zu setzen, dass man Pflichten mit Vergnügen gut verbinden und dabei auch noch einen Beitrag zur Nachhaltigkeit leisten kann, indem man die eigene Mobilität an den Klimawandel anpasst. Ich lade herzlich ein, mitzufahren oder die Radfahrten mit Kilometergeld zu unterstützen! Die Informationen zu Terminen und Sponsoring findet man auf der Homepage der Stiftung Auge.
Wie setzt sich die DOG für mehr Nachhaltigkeit in der Augenheilkunde ein?
Wir haben konkrete Empfehlungen für alle Teilbereiche der Ophthalmologie in einem Positionspapier erarbeitet. Zum Beispiel, wie man Sprechstunden strukturiert und Mitarbeiter schult; ob man zukünftig mit telemedizinischen Maßnahmen, wenn diese gut vorbereitet sind, arbeiten kann; was man im Operationsaal etwa bei der Wahl der Anästhesieverfahren, aber auch in Hinblick auf Innovationen bedenken sollte; was in Wissenschaft und Lehre zu diesem Thema relevant ist. Dieses Positionspapier wird noch im Herbst in der „Ophthalmologie“ erscheinen, die ja schon in ihrer Juni-Ausgabe die augenärztlichen Ursachen, Folgen und Handlungsmöglichkeiten im Zusammenhang mit dem Klimawandel detailliert beleuchtet hat. Ich empfehle die Lektüre. Ein weiterer Beitrag der DOG ist die Initiative „DOG pura“, mit der wir mehr Nachhaltigkeit auf dem Kongress umsetzen. Die DOG hat den Papierverbrauch etwa bei den Kongressmaterialien minimiert, nutzt möglichst umweltfreundliche Drucksachen, reduziert den Fleischanteil beim Catering und legt Wert auf die Wahl nachhaltiger Partner*innen in der Kongress-Organisation. Wir suchen aber weiter nach neuen Ideen, konkret in Form eines erstmaligen Wettbewerbs, dessen Preisträger*innen bei der Eröffnungsveranstaltung der Tagung ausgezeichnet werden. Und natürlich können alle Kongressteilnehmer*innen einen persönlichen Beitrag leisten. Wer nicht mit dem Rad anreisen kann, sollte wenigstens das Flugzeug mal stehen lassen – der Flug wird ohnehin storniert. Aber im Ernst: Die Anreise geht – wenn auch manchmal holprig – sehr gut mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Und für die Reise zur DOG mittels Bahn gibt es vergünstigte Tarife.
Wo sehen Sie die wichtigsten Gebiete, auf denen die Augenheilkunde nachhaltiger werden sollte? Im Zuge der Pandemie wurden ja beispielweise sogar noch mehr Einwegprodukte auf den Markt gebracht.
Das Gesundheitswesen hat mit etwa fünf Prozent einen größeren Anteil am CO2-Fußabdruck als der gesamte internationale Flugverkehr! Das stand aber bisher nie so im Fokus der Diskussion, da die Medizin essentieller, lebensbestimmender ist als eine Flugreise in den Urlaub. Die Augenheilkunde spielt dabei durchaus keine Nebenrolle. Auf Grund der großen Zahl von Volkskrankheiten wie Katarakt oder Makuladegeneration und den damit oft verbundenen operativen Eingriffen, den ambulanten Vor- und Nachuntersuchungen, ist der Verbrauch an Ressourcen auch in unserem Fach immens. Denken Sie an die Anfahrt von Patientinnen, Patienten und Personal, den eingesetzten Gerätepark und das verwendete Verbrauchsmaterial. Als Beispiel hier die Katarakt-Operation mittels Phakoemulsifikation: Bei der Operation eines einzelnen Patienten entstehen in Großbritannien 182 kg CO2, in Indien nur 6 kg. Die Verhältnisse sind sicher nicht eins zu eins zwischen verschiedenen Ländern zu übertragen, aber dennoch zeigen diese Zahlen, dass wir uns in der westlichen Welt Gedanken über unseren Ressourceneinsatz auch in der Augenheilkunde machen müssen. Wir müssen uns fragen: Wieviel Femtosekundenlaser benötigen wir in der Kataraktchirurgie, wie viele aufwändige Kontrolltermine sind wirklich erforderlich? Einwegprodukte sind ein weiterer Aspekt auf dem Weg zu mehr Nachhaltigkeit, deren Für und Wider man aber genau betrachten muss, um zu einer fundierten Öko-Bilanz von Einweg- oder Mehrweginstrumenten zu kommen.
Dieses Jahr findet der DOG-Kongress wieder als Präsenzveranstaltung im Berliner Estrel statt. Welche Neuerungen erwarten die Besucher?
Zunächst einmal erwartet die Teilnehmenden ein erweitertes Kongresszentrum, das hoffentlich unseren fachlichen Austausch auch durch räumliche Nähe weiter verbessert. Neu ist das Format des „Surgical Saturday“, bei dem ausgewiesene Expert*innen die Entwicklungen in der Katarakt-, Netzhaut-, Glaukom- und Hornhautchirurgie darstellen und objektiv bewerteten. In den Sitzungen werden Kontroversen diskutiert, innovative Ansätze vorgestellt – zum Teil mit Videos – und auf die Ergebnisoptimierung eingegangen. Die Sitzungen erstrecken sich am Samstag von morgens 8.30 Uhr bis abends 18.00 Uhr, so dass wir auf die Teilnahme vieler interessierter Ophthalmochirurginnen und -chirurgen hoffen.
An welchen Veranstaltungen können diejenigen teilnehmen, die nicht nach Berlin kommen können?
Wir haben uns zu einer „partiellen Hybrid-Veranstaltung“ entschlossen. Es sind zwar nur drei Räume für die Online-Übertragung der Vorträge eingeplant, aber es können neben freien Vortragssitzungen auch Keynote Lectures, Symposien, der International Experts Day, Workshops und die beliebten DOG-Updates am Samstag und Sonntag online besucht werden. Da sollte für jeden und jede etwas dabei sein! Aber: Das volle Programm und den in meinen Augen mindestens genauso wichtigen „Flurfunk“ gibt es nur vor Ort.
Wie ist die Industrie in Berlin vertreten?
Wieder mit einer großen Ausstellung und hoffentlich vielen Innovationen. Gerade das Kennenlernen der Produkte der Industrie und die informativen Gespräche hierzu sind eigentlich nur in Präsenz gut möglich. In diesem Jahr gibt es auch erstmals einen Wettbewerb, bei dem Firmen, die an der Industrieausstellung der DOG teilnehmen, Konzepte für ökologische Nachhaltigkeit einreichen konnten und die ebenfalls prämiert werden. Wie gesagt: Nachhaltigkeit ist eine Aufgabe für uns alle gemeinsam.
Herzlichen Dank für dieses Interview!
Interview Achim Drucks
DOG 2022
29. Sept. – 2. Okt. 2022
Estrel Berlin / partiell hybrid