„Endpunkte generieren, um Therapiestudien durchführen zu können“ – Ein Interview mit Professor Frank Holz
Er zählt zu den weltweit führenden Experten für Erkrankungen der Netzhaut und der Makula. Ein Interview mit Professor Frank Holz über Bildgebung der Netzhaut, die Arbeit des Medical Imaging Center Bonn, die MACUSTAR Studie und neue Strategien gegen die trockene AMD.
Professor Dr. med. Frank Holz ist seit 2003 Direktor der Klinik für Augenheilkunde des Universitätsklinikums Bonn (UKB). Seine Forschungsschwerpunkte sind Netzhaut- und Makulaerkrankungen, Netzhaut-Imaging und KI-basierte Analyse von digitalem Netzhaut-Imaging.
Aktuell koordiniert Prof. Holz u. a. die im Rahmen des EU-Programms Innovative Medicines Initiative 2 mit 16,2 Millionen Euro geförderte MACUSTAR Studie zur intermediären altersabhängigen Makuladegeneration (AMD). In Bonn hat er das internationale GRADE Reading Center als Steinbeis-Forschungszentrum etabliert. Dieses Zentrum wertet digitale Bilddaten aus globalen klinischen Studien aus und ist unter anderem mit der Biomarker-Entwicklung und Nutzung Künstlicher Intelligenz bei der automatisierten Bildauswertung befasst. Außerdem initiierte er die Gründung des Medical Imaging Center Bonn (MIB), eines interdisziplinären Kompetenzzentrums für medizinische Bildgebung und Bildverarbeitung des UKB.
Herr Prof. Holz, gerade zur Netzhaut wird sehr viel Grundlagenforschung betrieben. Was war für Sie das wichtigste Forschungsergebnis zu diesem Thema in der letzten Zeit?
Prof. Dr. Frank Holz: Die Netzhautforschung ist sehr breit gefächert. Es gibt bei ganz unterschiedlichen Indikationen und Krankheitsentitäten Fortschritte. Ich denke, besonders nennenswert war die Identifikation der Rolle des Komplementsystems bei der späten atrophischen Verlaufsform der altersabhängigen Makuladegeneration. Dazu wurden in den letzten drei Wochen erstmals positive Phase III Studienergebnisse vorgestellt.
Die Ophthalmologie zählt zu den innovativsten medizinischen Fächern – gerade was Bildgebung anbetrifft. Sie sind der Initiator des Medical Imaging Center Bonn (MIB), das im Frühjahr seine Arbeit aufgenommen hat. Was sind seine Aufgaben?
Das MIB ist eine Dachstruktur für alle Arbeitsgruppen, die sich hier am Campus des Universitätsklinikums Bonn mit Medical Imaging im breiteren Sinne befassen. Dabei geht es nicht nur um klinische Anwendungen, sondern auch um die Translation von neuen Verfahren. Aber die Bildgebung spielt natürlich auch im grundlagenwissenschaftlichen Bereich eine große Rolle – denken Sie nur an KI-basierte Auswertungsalgorithmen von Pathologiebefunden. Wir in der Augenklinik sind natürlich besonders daran interessiert, die hochauflösende digitale Bildgebung der Netzhaut zu verbessern.
Das MIB bringt ganz unterschiedliche Wissenschaftler zusammen. Dazu zählen auch Computerwissenschaftler aus der mathematisch-naturwissenschaftlichen Fakultät, die eine spezielle Expertise in der Entwicklung von Auswertungsalgorithmen besitzen, um digitale Aufnahmen rascher und besser auslesen zu können, was letztlich in der Diagnostik und Therapiesteuerung hilfreich sein soll.
Könnten Sie ein konkretes Projekt nennen, bei dem die Kooperation zwischen Ophthalmologen und Vertretern anderer Disziplinen besonders gut zum Tragen kommt?
Da gibt es eine ganze Reihe von Beispielen. So haben wir den Input von Mathematikern und Computerwissenschaftlern, die mit der Augenklinik kooperieren, bei einem Projekt, in dem wir bestimmte Ausprägungsformen der altersabhängigen Makuladegeneration aus Volumenscans der optischen Kohärenztomographie quasi automatisiert quantifizieren und bestimmen. Das ist ein Bestandteil der MACUSTAR Studie, bei der es um neue strukturelle Endpunkte bei der intermediären altersabhängigen Makuladegeneration geht, mit denen dann in der Zukunft Therapieansätze getestet werden sollen.
Ein innovatives Bildgebungsverfahren, das am MIB eingesetzt wird, sind adaptive Optiken. Welche spezifischen Möglichkeiten bietet dieses Verfahren für die Erforschung der Netzhaut?
Adaptiven Optiken mit einem Scanning Laser Ophthalmoskop zu koppeln – dieses Verfahren betreibt die Arbeitsgruppe von Dr. Wolf Harmening. Sie verfügt über ein Set Up, das in Europa tatsächlich einmalig ist. Hier werden nicht nur hochaufgelöste Aufnahmen von Photorezeptoren generiert, die dann auch eine quantifizierte Auswertung gestatten. Mit diesem Set Up können sogar einzelne Zapfen stimuliert werden. Es handelt sich also um eine Funktionsprüfung in höchster Auflösung. Zu den potenziellen Anwendungsgebieten zählt nicht nur die Früherkennung von Netzhautdegenerationen, sondern auch die Testung von Therapieeffekten.
Wie sieht es mit KI-gestützter Analyse von Bilddaten am MIB aus?
Es gibt mittlerweile viele Arbeitsgruppen – nicht nur in der Augenklinik, auch in der Radiologie, der Neuroradiologie, der Neurochirurgie und anderen Gebieten – bei denen KI-basierte Auswertungen eine sehr große Rolle spielen. Ich hatte bereits das Beispiel der Pathologie genannt. Überall dort werden digitale Bilddaten generiert und gerade von der Augenheilkunde ist ja bekannt, dass diese Daten auch sehr umfänglich sein können. Einen OCT Volumen-Scan mit bloßem Auge auszuwerten, ist relativ aufwendig und er ist auf diese Weise nicht wirklich quantifizierbar. Hier ist KI eine große Hilfe, durch die die Auswertung rascher und besser funktioniert. Sie bringt aber auch neue Biomarker zum Vorschein, sodass Therapieeffekte noch präziser gemessen werden können.
Zum UKB gehört auch das GRADE Reading Center Bonn.
Das GRADE Reading Center Bonn ist in der Augenklinik verortet. Es hat die Aufgabe, klinische Studien zu unterstützen. In der Augenheilkunde entsteht eine sehr große Zahl an digitalen Bildern. Es laufen viele prospektive, randomisierte Therapiestudien, bei denen die beteiligten Zentren aus aller Welt ihre Bilddaten in diesem Reading Center hochladen. Dort findet dann die systematische Auswertung statt. Zum Beispiel bei der bereits erwähnten MACUSTAR Studie zur geografischen Atrophie. Hier muss die atrophische Läsion exakt in der Fläche quantifiziert werden, um beurteilen zu können, ob bei behandelten Augen das Größenwachstum verlangsamt wird. Das Reading Center macht dies mit Hilfe sehr minutiöser Algorithmen. Es werden sogenannte Grader eingesetzt, die sich KI-basierten Analysen bemächtigen und diese nutzen. Dabei entstehen Daten, die für die Zulassung eine Rolle spielen. Denn die Behörden machen diese davon abhängig, ob ein Therapieeffekt wirklich robust nachgewiesen werden kann.
Am GRADE Reading Center wird aktuell unter anderem die MACUSTAR Studie zur intermediären AMD betreut. Worum genau geht es in dieser Studie?
Die MACUSTAR Studie adressiert einen Unmet Need – den Mangel an Beurteilungskriterien und Endpunkten für klinische Studien in diesem Stadium der intermediären AMD. In diesem Stadium ist der zentrale Visus meist noch sehr gut. Deswegen kann die bestkorrigierte Sehschärfe – anders als beim feuchten Spätstadium der AMD – nicht herangezogen werden, um Therapieeffekte zu messen. Die MACUSTAR Studie ist ein EU-gefördertes Projekt, wobei neben der akademischen Seite auch die Industrie beteiligt ist. Sie hat ein großes Interesse. Denn dort gibt es Therapieansätze, die aber noch nicht geprüft werden können, weil die Endpunkte von FDA oder EMA noch nicht akzeptiert werden. An der MACUSTAR Studie sind 20 klinische Zentren in sieben europäischen Ländern beteiligt und untersuchen longitudinal im Verlauf Patienten mit intermediärer AMD mit einer ganzen Batterie an strukturellen Imaging-basierten Untersuchungsmethoden. Dazu kommen noch funktionelle Untersuchungsmethoden und sogenannte Patient Reported Outcome Measures, mit denen man auch die Patientenperspektive einbezieht. Diese Studie hat jetzt diese erste cross-sektionale Phase abgeschlossen. Die Patienten werden jetzt noch weiter untersucht mit dem Ziel – und das machen wir in enger Absprache mit den Behörden –, dass das, was an Endpunkten generiert wird, tatsächlich auch akzeptiert wird, und somit Therapiestudien durchführbar werden.
Inwieweit haben Erkenntnisse aus den Forschungen der beiden Zentren Eingang in die klinische Praxis des UKB gefunden?
Dieser Überbegriff Medical Imaging findet natürlich tagtäglich in der Medizin statt. Am Beispiel der Augenheilkunde festgemacht erleichtert es die Auswertung komplexer Bilddaten und hat hier tatsächlich schon Eingang gefunden. Es gibt zum Beispiel ein Projekt, das jetzt noch seine Übersetzung in den Alltag sucht, bei dem der Injektionsbedarf bei der feuchten neovaskulären AMD vorhergesagt werden kann. Das ist ein Projekt, das vor allem Dr. Maximilian Pfau in Kooperation mit US-amerikanischen Kolleginnen und Kollegen betrieben hat. Diese Erkrankung verläuft extrem variabel: Ein Patient braucht im ersten Jahr vielleicht nur drei, ein anderer dagegen zwölf Behandlungen. Hier gibt es jetzt Algorithmen, die dies tatsächlich relativ gut vorhersagen können.
Die Augenklinik des UKB ist eines von drei deutschen Zentren, welche die Gentherapie mit Luxturna durchführen. Vor kurzem hat Ihr Kollege Prof. Priglinger, der diese Therapie an der Augenklinik der LMU München anbietet, einen Aufsatz über Fälle von Atrophie nach der Behandlung veröffentlicht. Welche Folgen ergeben sich daraus?
Es handelt sich hier um die erste zugelassene Gentherapie in der Augenheilkunde und das bedeutet einen erheblichen Fortschritt. Es gab für diese Erkrankung mit biallelischen Mutationen im RPE65-Gen keinerlei Behandlungsmöglichkeiten. Sie führt praktisch immer zur Erblindung. Deswegen war diese Therapie ein wirklich großer Durchbruch. Wir haben in Bonn mittlerweile 30 Augen mit Luxturna therapiert. Es gibt in der Tat bei einem zum Glück kleinen Teil der Patienten nach der Therapie eine Atrophieentwicklung. Es ist noch zu früh, das richtig einzuordnen. Im sogenannten PERCEIVE Register werden diese Fälle sehr minutiös erfasst, damit wir uns hier ein besseres Bild machen können. Aber das ist zum jetzigen Zeitpunkt auf gar keinen Fall ein Grund, Betroffenen diese Therapie vorzuenthalten. Es ist allerdings ein Signal, das alle sehr ernst nehmen und das noch näher betrachtet werden muss.
Ein weiteres Feld der Regenerativen Medizin, zu dem an der Augenklinik des UKB geforscht wird, sind Stammzellen. Was sind hier die wichtigsten Projekte?
In der Augenklinik des UKB versuchen wir, patienteneigene Zellen, sogenannte induzierte pluripotente Stammzellen, so umzuprogrammieren, dass sie sich zu retinalen Pigmentepithelzellen oder gar zu Photorezeptoren entwickeln. Daran arbeitet die Forschungsgruppe von Professor Volker Busskamp. Das ist im Moment noch nicht spruchreif, um in die klinische Anwendung zu gehen. Aber gerade bei Erkrankungen, bei denen diese Zellen komplett zugrunde gegangen sind, ist es natürlich ein rationaler Ansatz, der Netzhaut wieder funktionstüchtige Zellen zur Verfügung zu stellen. Insofern sehe ich hier sehr gute und weiterführende Entwicklungen und bin optimistisch, dass auch das einmal Eingang in die klinische Routine finden wird.
In einem Interview mit EYEFOX hat Professor Erb für einen ganzheitlicheren Blick auf das Primäre Offenwinkelglaukom plädiert. Man solle neben dem Augeninnendruck auch den Einfluss des oxidativen Stresses auf die Degeneration des Sehnervs betrachten und auch das Mikrobiom. Hier könne eine ungünstige Zusammensetzung zu entzündlichen Reaktionen und damit auch zu Autoimmunmechanismen im Auge führen. Am UKB wird zu Zusammenhängen zwischen Darmflora und AMD geforscht. Haben diese Forschungen den Blick auf die AMD verändert?
Ich denke, ja. Wir hatten schon immer die klare Vorstellung, dass es sich um eine multifaktorielle Erkrankung handelt. Es ist also nicht ein einzelner Erbfaktor, der bestimmt, ob und wann die Erkrankung auftritt und mit welcher Geschwindigkeit sie fortschreitet. Dabei spielen tatsächlich viele Faktoren eine Rolle. Gerade inflammatorische Mechanismen – ich hatte das Komplementsystem bereits erwähnt – sind hier sicherlich involviert. Das Mikrobiom moduliert offensichtlich Immunmechanismen im Körper und kann beeinflussen, ob es quasi Abwehrphänomene gegen körpereigene Proteine gibt. Das ist ein überaus komplexes System. Aber hier würde ich Herrn Professor Erb völlig zustimmen: Man muss es im Ganzen sehen und darf nicht davon ausgehen, dass man, wenn man einen Stoffwechselweg betrachtet, die ganze Krankheit und ihren Verlauf erklären kann. Deshalb nehmen wir beispielsweise auch in der MACUSTAR Studie Blutuntersuchen vor, sogenannte Metabolomics-Studien, bei denen man systemische Faktoren findet. Und es wurde ja festgestellt, dass eine erhöhte Aktivität des Komplementsystems, die sich im Blut nachweisen lässt, mit der altersbedingten Makuladegeneration assoziiert ist. Diese systemischen Faktoren sind auf jeden Fall von Relevanz.
Welche jüngeren Erkenntnisse in Bezug auf trockene AMD / geographische Atrophie fanden Sie persönlich besonders spannend?
Besonders spannend auf diesem Feld der geografischen Atrophie, also der atrophischen Spätform der AMD, ist sicherlich, dass uns jetzt wie gesagt innerhalb weniger Wochen zwei unterschiedliche Phase-III-Studien vorliegen, die positive Ergebnisse geliefert haben. Das gab es bislang noch nicht. Alle anderen Studien sind gescheitet und haben ihre primären Endpunkte nicht erreicht. Jetzt gibt es einen C3- und einen C5-Inhibitor, die ähnliche Effektgrößen zeigen. Das Therapieziel ist dabei allerdings noch etwas bescheiden: Es geht um eine Verlangsamung des Fortschreitens, nicht um eine Verbesserung des Sehens wie bei der feuchten AMD. Aber ich denke analog hierzu ist das Glaukom zu sehen, wo es ja auch um eine Verlangsamung der Progression und nicht um eine Heilung oder eine Verbesserung geht.
Die Ergebnisse der Phase-III-Studien werden jetzt an die Behörden gehen und es wird eine Zulassung angestrebt. Das könnte den Alltag der Ophthalmologie erheblich beeinflussen. Denn diese Therapien werden ein- bzw. zweimonatlich verabreicht und es gibt kein PRN- und kein Treat-&-Extend-Schema, bei denen man längere Injektionsintervalle zulassen könnte. Das wird also eine Mammutaufgabe. Aber ich denke, es ist von erheblicher Bedeutung, dass dieser Schritt gegangen wird. Dass es erstmals überhaupt eine Therapiemöglichkeit gibt, wird sicherlich viele bereits laufende Entwicklungen beschleunigen und voranbringen.
Fragen: Achim Drucks
Die Audio-Version des Interviews finden Sie hier in der EYEFOX Audiothek. Sie bietet Ihnen zahlreiche Podcasts zum Thema Ophthalmologie.