Neue Belege zur Wirksamkeit: Transkorneale Elektrostimulation (TES) verlangsamt die Progression bei Retinitis pigmentosa
Daten belegen, dass Gesichtsfeldverschlechterung bei Retinitis pigmentosa signifikant verlangsamt werden kann • Frühzeitiger Einsatz der TES-Behandlung kann den Beginn eines schweren Sehkraftverlustes deutlich herauszögern • Patienten können die Stimulationstherapie mit dem OkuStim®-System einmal pro Woche, 30 Minuten zuhause anwenden
Retinitis pigmentosa (RP) ist eine hereditäre Dystrophie der Netzhaut und der Aderhaut, die sich für die Betroffenen in einer progressiven, letztlich vielfach in die Erblindung mündenden Gesichtsfeldverschlechterung manifestiert. In einer neuen Auswertung einer früheren Studie, an der Ärzte der Universitätsaugenklinik Tübingen und der Augenklinik am Klinikum Stuttgart beteiligt waren, konnten jetzt eindeutige Belege für die Wirksamkeit der Therapie nachgewiesen werden. Die Daten zeigen, dass mit der in Deutschland entwickelten Behandlungsmethode die Gesichtsfeldverschlechterung bei RP signifikant verlangsamt werden kann: Bei dieser Behandlung werden Netzhautzellen durch von außen – über die Augenoberfläche – zugeführte elektrische Impulse stimuliert. Die als „transkorneale elektrische Stimulation“ (TES) bezeichnete Therapie ist für Patienten nicht belastend, nicht invasiv und wirkte in der Studie unabhängig davon, wie fortgeschritten die Gesichtsfeldeinschränkung der Patienten zu Beginn der Therapie war.
Zur Behandlung der Retinitis pigmentosa wurden in der Vergangenheit zahlreiche Ansätze untersucht. Erforscht werden zur Zeit vor allem die Möglichkeiten der Gen- und der Stammzelltherapie, wobei wenig davon bisher in die klinische Routine übernommen werden konnte. Zudem erfordert die Gentherapie typischerweise einen invasiven Eingriff, der ein hohes Risikopotenzial birgt. Bei 52 Patienten, die an der Studie teilnahmen, wurde die von dem Reutlinger Medizinproduktehersteller Okuvision GmbH entwickelte elektrische Stimulationstherapie (OkuStim®) angewendet. Dabei wird eine Elektrode an das Unterlid aufgesetzt und der Bulbus unterhalb der Hornhaut kontaktiert. Die Behandlung mit Stromimpulsen von maximal 1 mA und 20 Hz dauert 30 Minuten, erfolgt einmal pro Woche und kann von den Patienten nach kurzer Schulung selbstständig zuhause durchgeführt werden.
Von den in die Studie eingeschlossenen Patienten (Durchschnittsalter: 46 Jahre) wurden 32 auf einem Auge mit elektrischen Stimulationen zwischen 0,1 und 1,0 mA in wöchentlichem Abstand behandelt; bei 20 Patienten wurde eine Scheinbehandlung (Placebogruppe) vorgenommen. Nach einem Jahr Behandlung wurde in den mit TES behandelten Augen ein durchschnittlicher Gesichtsfeldrückgang von 2,1% und in den (nicht behandelten) Partneraugen von 5,8% verzeichnet, während der Rückgang bei den Augen aus der Placebogruppe bei 7,5% lag. Damit war der Rückgang der mit kinetischer Perimetrie gemessenen Gesichtsfeldfläche in den mit TES therapierten Augen um bemerkenswerte 64% geringer als in den unbehandelten Augen (p=0,013) und um 72% geringer als in der Placebogruppe (p=0.103). Diese Verlangsamung korrelierte mit der Stärke der Stimulation. Die Behandlung war bei 23 stimulierten Patienten mit vorübergehenden milden Symptomen des Trockenen Auges verbunden.
In Deutschland hat die Retinitis pigmentosa eine Prävalenz von etwa einem Betroffenen pro 4.000 Einwohner. Nachtblindheit ist ein Frühsymptom des Leidens, das vielfach bereits im Kindesalter (mit angeborener Erblindung als einer extremen Form) auftritt, sich bei milden Verläufen aber auch erst in höherem Lebensalter manifestieren kann. Der Gesichtsfeldrückgang tritt typischerweise erst in der Peripherie auf und schreitet langsam, aber – bislang – unaufhaltsam in Richtung Zentrum fort, bis nur noch ein kleines, konzentrisch eingeengtes und im Alltag kaum nutzbares Restgesichtsfeld bestehen bleibt. Etwa die Hälfte der Betroffenen sind im Alter von 55 Jahren im gesetzlichen Sinne erblindet. Eine Verlangsamung des Gesichtsfeldrückgangs durch die TES-Behandlung, so resümieren die Autoren, bietet die Chance, schwere Sehkraftverluste deutlich hinauszuzögern.
Der genaue Wirkmechanismus der TES ist noch nicht entschlüsselt. Experten gehen von einem neuroprotektiven Effekt aus, der unabhängig von der genetischen Ursache der RP wirkt und der sinnvollerweise bei Patienten so früh wie möglich genutzt werden sollte – solange das Zentrum der Retina noch weitgehend intakt und die visuelle Funktion kaum in Mitleidenschaft gezogen ist.
Quellenangabe: Alfred Stett, Andreas Schatz, Florian Gekeler, Jeremy Franklin; Transcorneal Electrical Stimulation Dose-Dependently Slows the Visual Field Loss in Retinitis Pigmentosa. Trans. Vis. Sci. Tech. 2023;12(2):29.