Kongenitale Katarakt: Veränderungen im Gehirn nach Augen-OP

Jahrzehntelang glaubten Neurowissenschaftler, dass es eine „kritische Periode“ gäbe, in der das Gehirn lernen kann, visuelle Informationen zu verarbeiten, und dass sich dieses Fenster im Alter von 6 oder 7 Jahren schließt. Doch neue Forschungen von Prof. Pawan Sinha vom Institut für Neuro- und Kognitionswissenschaften am MIT zeigen, dass das Bild differenzierter ist.

Courtesy of the researchers, edited by MIT News
Courtesy of the researchers, edited by MIT News

In vielen Studien mit Kindern in Indien, bei denen die Kongenitale Katarakt erst nach dem siebten Lebensjahr operativ entfernt wurde, hat Prof. Sinha festgestellt, dass auch ältere Kinder noch lernen können, visuelle Aufgaben zu bewältigen – wie etwa das Erkennen von Gesichtern und Bewegungen oder das Unterscheiden von Objekten vom Hintergrund.

Im Rahmen einer neuen Studie haben Prof. Sinha und seine Kollegen nun anatomische Veränderungen entdeckt, die im Gehirn dieser Kinder auftreten, nachdem ihr Sehvermögen wiederhergestellt wurde. Diese Veränderungen, die sich in der Struktur und Organisation der weißen Substanz zeigen, scheinen einigen der visuellen Verbesserungen zugrunde zu liegen, die die Forscher bei diesen Patienten beobachtet haben.

Die Ergebnisse der Studie untermauern die These, dass das Zeitfenster für die Plastizität des Gehirns, zumindest was einige visuelle Aufgaben betrifft, viel weiter reicht als bisher angenommen.

„Angesichts des bemerkenswerten Ausmaßes der Umgestaltung der Gehirnstruktur, die wir beobachten konnten, unterstreicht dies den Punkt, den wir mit unseren verhaltensbezogenen Forschungen zu machen versucht haben, nämlich dass alle Kinder behandelt werden sollten“, erklärt Prof. Pawan Sinha, Leiter des Sinha Lab, Institut für Neuro- und Kognitionswissenschaften, MIT und einer der Autoren der Studie, die in den Proceedings of the National Academy of Sciences erschienen ist. 

Plastizität der weißen Substanz

In Industrienationen wie den Vereinigten Staaten werden Neugeborene mit Kongenitaler Katarakt innerhalb weniger Wochen operiert. In Entwicklungsländern wie Indien bleibt jedoch ein höherer Prozentsatz dieser Kinder unbehandelt.

Vor fast 20 Jahren rief Prof. Sinha eine Initiative namens Project Prakash ins Leben, um blinden und sehbehinderten Kindern in Indien eine medizinische Behandlung zu ermöglichen. Im Rahmen des Projekts werden jedes Jahr Tausende von Kindern untersucht, von denen dann viele eine Brille oder eine Katarakt-OP erhalten. Einige dieser Kinder nehmen mit dem Einverständnis ihrer Familien auch an Studien darüber teil, wie das visuelle System des Gehirns auf die Wiederherstellung des Sehvermögens reagiert.

In ihrer neuen Studie wollten die Forscher untersuchen, ob sie anatomische Veränderungen im Gehirn feststellen konnten, die mit den Verhaltensänderungen korrelieren könnten, die sie zuvor bei behandelten Kindern beobachtet hatten. Sie untersuchten 19 Teilnehmer im Alter von 7 bis 17 Jahren zu verschiedenen Zeitpunkten, nachdem sie sich einer Katarakt-OP unterzogen hatten.

 

Um die anatomischen Veränderungen im Gehirn zu analysieren, verwendeten die Forscher eine spezielle Art der Magnetresonanztomographie, die Diffusions-Tensor-Bildgebung. Sie misst die Diffusionsbewegung von Wassermolekülen in Körpergewebe und stellt sie räumlich aufgelöst dar. Dieses Verfahren kann Veränderungen in der Organisation der weißen Substanz aufzeigen. Die Diffusions-Tensor-Bildgebung verfolgt die Bewegung der Wasserstoffkerne in den Wassermolekülen und liefert zwei Messwerte: die mittlere Diffusivität, ein Maß dafür, wie frei sich die Wassermoleküle bewegen können, und die fraktionierte Anisotropie, die Aufschluss darüber gibt, inwieweit das Wasser gezwungen ist, sich eher in eine Richtung zu bewegen als in eine andere. Ein Anstieg der fraktionellen Anisotropie deutet darauf hin, dass die Wassermoleküle stärker eingeschränkt sind, weil die Nervenfasern in der weißen Substanz in eine bestimmte Richtung ausgerichtet sind.

„Wenn die fraktionelle Anisotropie zunimmt und die mittlere Diffusivität abnimmt, kann man daraus schließen, dass das Volumen der Nervenfasern zunimmt und sie in ihrer Ausrichtung besser organisiert sind“, sagt Sinha. „Wenn wir uns die weiße Substanz des Gehirns ansehen, dann sehen wir genau diese Art von Veränderungen in einigen der Bündel der weißen Substanz“.

Die Forscher beobachteten diese Veränderungen insbesondere in den Bahnen der weißen Substanz, die zu den späteren Stadien des visuellen Systems gehören, von dem man annimmt, dass es an Funktionen höherer Ordnung wie der Gesichtswahrnehmung beteiligt ist. Diese Verbesserungen traten schrittweise über mehrere Monate nach der Operation auf.

„Man sieht anatomische Veränderungen in der weißen Substanz. Aber in separaten Studien, die funktionelles Neuroimaging verwenden, sieht man auch eine zunehmende Spezialisierung in Abhängigkeit von der visuellen Erfahrung, ähnlich wie bei der normalen Entwicklung“, sagt Dr. Sharon Gilad-Gutnick vom MIT, eine der Co-Autorinnen der Studie. 

Die Forscher testeten auch die Leistung der Teilnehmer bei verschiedenen visuellen Aufgaben. Sie stellten fest, dass ihre Fähigkeit, Gesichter von anderen Objekten zu unterscheiden, mit dem Ausmaß der strukturellen Veränderungen in den Bahnen der weißen Substanz korrelierte, die mit der visuellen Funktion höherer Ordnung verbunden sind.

Im Vergleich dazu zeigte sich bei den behandelten Kindern zwar eine gewisse Verbesserung der Sehschärfe, aber sie erholte sich nie vollständig. Und sie zeigten nur minimale Veränderungen in der Organisation der weißen Substanz der frühen Sehbahnen.

„Die Vorstellung, dass Plastizität eine zeitlich begrenzte Ressource ist und dass wir nach einem bestimmten Zeitfenster keine großen Verbesserungen mehr erwarten können, scheint für niedrige visuelle Funktionen wie die Sehschärfe zu gelten“, so Prof. Sinha. „Aber wenn wir über eine visuelle Fähigkeit höherer Ordnung sprechen, wie z. B. ein Gesicht von einem Nicht-Gesicht zu unterscheiden, sehen wir im Laufe der Zeit Verhaltensverbesserungen. Wir finden auch eine Korrelation zwischen der Verbesserung, die wir im Verhalten sehen, und den Veränderungen, die wir anatomisch sehen.“

Vorteile der Behandlung

Die Forscher fanden auch heraus, dass Kinder, bei denen die Katarakt in einem jüngeren Alter entfernt wurde, größere und schnellere Fortschritte bei der Fähigkeit zur Gesichtswahrnehmung zeigten als ältere Kinder. Alle Kinder zeigten jedoch zumindest eine gewisse Verbesserung dieser Fähigkeit, zusammen mit Veränderungen in der Struktur der weißen Substanz.

Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass ältere Kinder von dieser Art der Operation profitieren können, und sind ein weiterer Beweis dafür, dass sie ihnen angeboten werden sollte, so Prof. Sinha.

„Wenn das Gehirn über so herausragende Fähigkeiten verfügt, sich neu zu konfigurieren und sogar seine Struktur zu verändern, dann sollten wir uns diese Plastizität zunutze machen und Kindern unabhängig vom Alter eine Behandlung anbieten.“

Prof. Sinhas Labor analysiert jetzt weitere Bildgebungsdaten von Project-Prakash-Patienten. In einer Studie untersuchen die Forscher, ob die Patienten nach der Behandlung Veränderungen in der Dicke ihrer grauen Substanz, insbesondere in den sensorischen Verarbeitungsbereichen des Gehirns, aufweisen. Außerdem versuchen die Forscher mithilfe der funktionellen MRT, visuelle Funktionen wie z. B. die Wahrnehmung von Gesichtern zu lokalisieren, um festzustellen, ob sie in denselben Teilen des Gehirns entstehen wie bei Menschen, die mit normalem Sehvermögen geboren wurden.

Die Forschung wurde vom National Eye Institute finanziert.

Quelle: MIT
Originalveröffentlichung: White matter plasticity following cataract surgery in congenitally blind patients