Verarbeitung visueller Informationen im Gehirn: Attempto-Preise für Matthias Baumann und Roxana Zeraati

Die Tübinger Neurowissenschaftler Matthias Baumann und Roxana Zeraati werden für herausragende Studien zu Themen der Verarbeitung visueller Informationen im Gehirn ausgezeichnet.

Matthias Baumann / Roxana Zeraati. Fotos: Friedhelm Albrecht / Universität Tübingen
Matthias Baumann / Roxana Zeraati. Fotos: Friedhelm Albrecht / Universität Tübingen

Die diesjährigen Attempto-Preise der Tübinger Attempto-Stiftung gehen an Matthias Baumann für seine Arbeit über die Rolle der Hirnregion Colliculus superior bei der Integration visueller Informationen in motorische Signale zur Steuerung schneller Augenbewegungen und an Roxana Zeraati für ihre Veröffentlichung über die Verarbeitung von Sehinformationen im Gehirn auf unterschiedlichen Zeitskalen. Die Preise sind jeweils mit 5.000 Euro dotiert und wurden im Rahmen des Festakts des Dies Universitatis der Universität Tübingen am 16. Oktober 2024 in der Alten Aula überreicht.

Matthias Baumann promoviert am Werner Reichardt Centrum für Integrative Neurowissenschaften (CIN), dem Hertie-Institut für klinische Hirnforschung und dem Fachbereich Biologie der Universität Tübingen. Er wird für eine Studie ausgezeichnet, in der er gemeinsam mit seinen Koautoren die Rolle einer bestimmten Gehirnregion, dem Colliculus superior, bei der Steuerung schneller Augenbewegungen, den sogenannten Sakkaden, neu bewertet. Bisher nahm man an, dass der Colliculus superior in erster Linie motorische Befehle zur Ausführung dieser Bewegungen generiert. Baumann entdeckte jedoch, dass die Nervenzellen dieses Mittelhirnbereichs nicht nur die Bewegung selbst steuern, sondern auch detaillierte visuelle Informationen über das Ziel der Augenbewegungen in diesen ‚motorischen‘ Befehlen kodieren.

Wenn die Sakkaden auf realistische Objekte gerichtet sind, erwies sich die sensorische Abstimmung dieser motorischen Signale als deutlich ausgeprägter, als wenn einfache oder zufällig generierte Bilder gezeigt wurden. Der Colliculus superior kann visuelle Informationen über das Ziel der Sakkaden auch in Momenten aufrechterhalten, in denen die Bildinformation der Netzhaut durch die schnelle Bewegung des Auges unzuverlässig ist. Baumann und das Team vermuten, dass der Colliculus superior eine Art internen Vorschaumechanismus bietet. Dieser unterstützt das visuelle System, sodass auch während der kurzen Phase der Unsicherheit durch die schnellen Augenbewegungen eine stabile und präzise Wahrnehmung des Ziels gewährleistet ist.

Durch die neuen Ergebnisse lässt sich besser verstehen, warum unser Sehsystem in der Lage ist, trotz der schnellen Augenbewegungen eine zusammenhängende und stabile Wahrnehmung der Umwelt zu erzeugen. Die Studie belegt, dass die Hirnregion des Colliculus superior eine größere Rolle bei der visuellen Wahrnehmung spielt als bisher angenommen. Sie erweitert zudem das Verständnis dafür, wie das Gehirn sensorische und motorische Informationen integriert.

Roxana Zeraati forscht im Rahmen ihrer Doktorarbeit am Graduate Training Centre of Neuroscience der Universität Tübingen und an der International Max Planck Research School for the Mechanisms of Mental Function and Dysfunction. Ihre mit dem Attempto-Preis ausgezeichnete Publikation behandelt die Informationsverarbeitung im Gehirn über verschiedene Zeitskalen, die das Überleben in einer dynamischen Umwelt erst ermöglicht. Zum Beispiel muss auf die Wahrnehmung einer direkten Gefahr in der Umgebung sofort reagiert werden; doch müssen die Sinnesinformationen gleichzeitig über einen längeren Zeitraum integriert werden, um Aufgaben wie Entscheidungsfindung und Planung bestmöglich lösen zu können. In der Wissenschaft vermutet man, dass diese verschiedenen Zeitskalen der Informationsverarbeitung in entsprechenden Zeitskalen neuraler Aktivitätsfluktuationen im Gehirn kodiert sind.

In der ausgezeichneten Studie hat Zeraati gemeinsam mit ihrem Team untersucht, wie die Zeitskalen der neuralen Aktivitätsfluktuationen mit der Verarbeitung von Sehinformationen korrespondieren, wenn die Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Punkt im Raum gerichtet ist. Dazu nutzten sie Daten, die in Experimentallaboren an der Stanford University und Newcastle University bei Versuchen mit Affen gewonnen wurden. Diese erhielten Aufgaben, die ihre Aufmerksamkeit im Raum lenkten, während ihre Hirnaktivitäten aufgezeichnet wurden. Bei der Analyse der Daten stellten Zeraati und ihre Kolleginnen und Kollegen fest, dass lange und kurze Zeitskalen gleichzeitig in der neuralen Dynamik zu finden sind, aber nur die langen Zeitskalen an den Aufmerksamkeitsstatus der Affen angepasst sind. Wenn die Affen ihre Aufmerksamkeit auf bestimmte visuelle Reize richteten, verlängerten sich die langen Zeitskalen weiter, was mit einer kürzeren Reaktionszeit der Affen korreliert war.

Um die Mechanismen solcher Anpassungen zu verstehen, entwickelte das Forschungsteam Computermodelle, die verschiedene Aspekte der zellulären und Netzwerkeigenschaften des Gehirns abbilden. Die Forscherinnen und Forscher stellten fest, dass lange Zeitskalen der neuralen Aktivität dadurch geformt werden, wie die Nervenzellen miteinander verbunden sind und wie sie interagieren. Wenn die Interaktionen verstärkt werden, kann das Hirn Informationen über lange Zeitskalen verarbeiten. Dies scheint relevant zu sein, um Sehinformationen während der Aufmerksamkeitsspanne zu nutzen. Die Arbeit zeigt, wie die Integration von Experimenten und Computermodellen in den Neurowissenschaften hilft, die Verbindung zwischen Hirnstrukturen, Hirnfunktionen und flexiblem Verhalten besser zu verstehen.

Quelle: Eberhard Karls Universität Tübingen