Junge Ärzte treffen auf alte Strukturen ‒ chefärztliches Umdenken ist der Königsweg (Teil 1 - 4)
zum Thema Mitarbeiterführung
von Prof. Dr. med. Wolfgang Kölfen, Chefarzt der Städtischen Kliniken Mönchengladbach
Die junge Generation der Ärzte setzt in den Krankenhäusern gerade eine Revolution in Gang. Sie kommen nicht laut daher, sondern verändern das Krankenhaus still und schleichend. Dieser Wandel ist grundlegend, nachhaltig und unumkehrbar. Auch ältere, berufserfahrene Ärzte können diesen jungen Ärzten dankbar sein, denn sie fordern etwas, was auch ihnen selbst zugutekommt. Auch ältere Ärzte wollen inzwischen anders leben und arbeiten. Es entsteht gerade eine neue Berufskultur des Arztes.
Ärztliche Morgenbesprechung ‒ Sinnbild alter Zeiten
Professor L. ist der Chef der Klinik. Er führt diese Klinik seit über 20 Jahren. Viel hat sich in den Jahren geändert, allerdings ist er unverändert der Meinung, dass ein Klinikchef einen klaren Führungsstil benötigt, um den Herausforderungen der neuen Zeit gerecht werden zu können.
Die Morgenbesprechung beginnt pünktlich um 08:00 Uhr. Die Ärzte der Station sind wie immer zu spät. Der diensthabende Assistenzarzt stellt die neuen Patienten vor, die er in der Nacht aufgenommen hat. Professor L. hört zunächst zu, sagt dann aber nach einer Weile: „Können Sie die Anamnese auch ein wenig präziser vorstellen? Ich habe den Eindruck, Sie sind hier sehr oberflächlich informiert.“
Professor L. beobachtet die Ärzte im Raum, während Dr. Kreuzberg von einem 4-jährigen Kind mit einer ausgeprägten Lungenentzündung berichtet. Das Röntgenbild zeigt „rechts basal ein richtiges Infiltrat“. Während er den Satz gerade zu Ende geführt hat, sagt Professor L. mit lauter Stimme: „Ich möchte nicht, dass Sie hier einfach sinnlose Röntgenuntersuchungen bei Kindern durchführen.“ In dem Augenblick geht die Tür im Besprechungszimmer auf und die Blauen treten ein.
„Schön, dass die Station auch den Weg herunter gefunden hat. Heute sind es nur 10 Minuten Verspätung.“ Der Stationsarzt erwidert gleich: „Wir haben so viele kritische Patienten und Patientenversorgung hat immer Vorrang.“ „Ich verlange, dass Sie ein vernünftiges Zeitmanagement durchführen und hier unten pünktlich antreten“ erwidert der Professor sichtlich verärgert.
Eine Assistenzärztin unterbricht die kurze Stille und sagt: „Die Eltern auf K1 waren extrem schwierig. Sie verlangten unbedingt ein Einzelzimmer, das wir zurzeit nicht haben. Zusätzlich haben die Eltern die ganze Zeit während des Wochenendes an den Kinderkrankenschwestern auf Station herumgenörgelt. Der Höhepunkt war dann noch, dass sie abends nach einer Tageszeitung verlangt haben, mit der Begründung schließlich seien sie ja privat und laut Vertrag würde Ihnen dies zustehen. Ich habe dann gesagt, dass diese Zeitung normalerweise immer vom Oberarzt oder vom Chefarzt persönlich überbracht wird, weil es aber schon 22:00 Uhr sei, würde das heute nicht mehr klappen. Es kann also sein, dass diese Leute sich heute bei Ihnen über mich beschweren.“
Professor L.s Antwort kommt schnell: „Früher war das doch alles ganz anders, da wussten die Leute wenigstens zu schätzen, wenn wir ihre kranken Kinder wieder gesund gemacht haben. Heute habe ich den Eindruck, dass manche Eltern nur kommen, um hier in Ruhe nörgeln zu können.“ Schmunzeln war bei den Ärzten zu erkennen, gelacht wurde aber nicht.
„Also noch mal, halten Sie sich nicht mit nörgelnden Eltern auf. Ihre Aufgabe ist eine gute medizinische Versorgung der kranken Kinder, dafür sind wir schließlich berufen. Manche Eltern stören uns nur bei der Arbeit. Wegschicken können wir sie leider nicht.“
Professor L. fragt nun: „Wer ist denn heute mit dem Vortrag aus dem Journal-Club dran?“ Im Raum tritt umgehend Schweigen ein. Dann sagt die Assistentensprecherin: „Wir dachten, heute wird es mit der Zeit etwas knapp, sodass wir keinen Vortrag vorbereitet haben.“ „Sie sollen nicht denken, sondern sich schlicht und einfach an meine Anweisungen halten,“ erwidert Professor L. und verlässt den Raum. Im Herausgehen denkt er: „Ist ja wieder typisch! Alles muss ich im Vorfeld kontrollieren, damit es überhaupt klappt.“
Die Chefarztvisite ‒ alte Tradition trifft auf neue Wirklichkeit
Nach der Besprechung geht Professor L. direkt zur Chefvisite auf die Station K2. Dort angekommen, stellt er fest, dass bereits alles für die Visite gerichtet war. Die Assistenzärzte der Station, der Oberarzt und zwei PJler haben sich bereits um den Visitenwagen versammelt. Kurzfristig haben sie überlegt, mit der Visite zu beginnen, da der Chef heute 15 Minuten zu spät kommt. Sich getraut, alleine anzufangen, haben sie aber nicht.
Nun ging es endlich los. Im ersten Zimmer stellt die Assistenzärztin in Anwesenheit der Mutter das kranke Kind vor. Professor L. hat Rückfragen zur Anamnese, die er aber direkt an den Oberarzt stellt. Bevor die Mutter zu einer Frage ansetzen kann, sind die Weißen aber schon wieder entschwunden.
Im dritten Zimmer liegt ein 15-jähriges Mädchen mit einem Morbus Crohn. Die Patientin hat ein Rezidiv entwickelt. Die Assistenzärztin berichtet: „Seit ca. vier bis sechs Wochen hat die junge Dame ihre Tabletten nicht mehr genommen. Sie hatte keinen Bock mehr darauf und hat sie einfach weggelassen.“
Direkt übernimmt Professor L. die Initiative und spricht die junge Patientin an: „Du musst deine Tabletten nehmen, sonst wird das nichts mit dir. Du machst uns zusätzlich unnötige Arbeit. Wir müssen uns einfach darauf verlassen können, dass du unseren Anweisungen folgst. Es kann doch nicht so schwierig sein, jeden Morgen und Abend an diese Tabletten zu denken. Du siehst doch so aus, als wenn Du ausreichende Intelligenz hast, um das zu schaffen.“ Die junge Patientin schaut den Professor an und sagt dann: „Lassen Sie Ihren Zeigefinger zu Hause. Vor zwei Monaten ist mein Vater gestorben, da habe ich ganz andere Sorgen. Seitdem geht es mir einfach sehr schlecht.“ An den Assistenzarzt gewandt sagt Professor L. dann: „Ich glaube am einfachsten ist es, dass wir unsere Psychologin holen, damit sie mal mit dem Mädchen spricht.“
Im achten Zimmer kommt es dann erneut zu Schwierigkeiten. Der Assistenzarzt versucht gerade, einen Patienten vorzustellen. Der Junge hat eine geistige Behinderung und ist vom Kinderarzt eingewiesen mit dem Verdacht auf psychomotorische Anfälle. Die Darstellung der Anamnese erfolgt in Anwesenheit der Mutter und ist lückenhaft, sodass Professor L. ungeduldig wird und dann rasch sagt: „Ich erwarte von Ihnen, dass Sie sich hier vernünftig vorbereiten und die wesentlichen Fakten zum Patienten präsent haben. So kann ich doch meinen Rat nicht geben. Der Hinweis, dass Sie gestern frei hatten, ist doch eine Zumutung. Früher haben wir tagelang durchgearbeitet und das Wohl des Patienten stand für uns immer im Vordergrund. Diese viele Freizeit, die Sie als Ärzte heute alle haben, ist doch eine echte Gefahr für die kontinuierliche Patientenbetreuung. Zu meiner Zeit wäre das nicht vorgekommen. Außerdem erscheint mir die Indikationsstellung des niedergelassenen Kollegen sehr fragwürdig, uns überhaupt diesen Patienten zu schicken.“
In den letzten drei Krankenzimmern gibt es keine „weisen“ Tipps des Chefarztes mehr und er verabschiedet sich grußlos von der Station.
Alte Gepflogenheiten am Abend
Nach einem Tag ohne besondere Vorkommnisse macht Professor L. gegen 18:00 Uhr noch eine Runde durch seine Klinik, um zu schauen, ob die Ärzte noch seine medizinische Unterstützung benötigen. Auf den Stationen wird der Professor dann von einigen Müttern angesprochen mit der Frage, wie es mit ihrem kranken Kind weitergehe. Schließlich sagt er dann zu den Schwestern, sie mögen den Stationsarzt holen, damit er sich um die Fragen der Mütter kümmere. Zum Erstaunen des Professors sagt die Schwester dann: „Herr Professor, die Stationsärzte sind schon nach Hause. Ich glaube, die sind so gegen 16:35 Uhr gegangen. Seitdem habe ich hier keinen mehr gesehen. Wir können höchstens den diensthabenden Assistenzarzt holen. Möchten Sie das?“ Dankend verneint Professor L. und verlässt umgehend die Station.
Gegen 19:00 Uhr ist Professor L. wieder in seinem Zimmer angekommen. Bevor er nach Hause geht, führt er noch einige Telefonate, diktiert ein paar Mails und schaut sich zwei wissenschaftliche Artikel an, die er sich herausgesucht hatte. Sein Eindruck ist allerdings, dass diese Studien nicht mehr die Qualität haben, die früher üblich war, und aus diesem Grunde liest er die Artikel gar nicht zu Ende.
Fortsetzung folgt …