Forschungsprojekt SENCES erforscht Lücken in der Wahrnehmung
Wenn dem Gehirn visuelle Informationen fehlen, kann es sie selbst ergänzen. Doch wie belastbar sind diese sogenannten inferierten Informationen und wie stark bezieht das Gehirn sie in seine Entscheidungsfindung mit ein? Diesen Fragen widmet sich das Projekt SENCES, bei dem Psychologen und Ophthalmologen zusammenarbeiten. Der Europäische Forschungsrat fördert das Vorhaben mit rund 2 Millionen Euro.
„Die sensorische Information über unsere Umwelt enthält zahlreiche Lücken, die durch die Anatomie unserer Sinnesorgane, Schädigungen im Zuge von Augenerkrankungen oder durch Eigenschaften der Umwelt entstehen“, erklärt Prof. Dr. Alexander Schütz vom Fachbereich Psychologie der Philipps-Universität Marburg. So können wir zum Beispiel im blinden Fleck nichts sehen, weil sich dort keine Photorezeptoren befinden. Und Augenerkrankungen wie die altersbedingte Makuladegeneration (AMD) können zu einer Schädigung dieser Rezeptoren führen, wodurch Gesichtsfeldausfälle entstehen. Doch solche fehlenden sensorischen Informationen werden durch das Gehirn ergänzt, um zu einer lückenlosen Repräsentation unserer Umgebung zu gelangen. „Weitestgehend unklar ist jedoch bislang, inwieweit das Gehirn diese inferierte Information im Vergleich zu sensorischer Information gewichtet und für Wahrnehmung, Metakognition und Handlungssteuerung benutzt“, so Schütz, der die AE „Sensomotorisches Lernen“ leitet.
In vorangegangenen Untersuchungen konnten er und sein Team zeigen, dass Probanden der inferierten Information mehr vertrauen als sensorischer Information. „Das ist ein paradoxes Ergebnis: Das Gehirn kommt gewissermaßen zu eigenen Schlussfolgerungen und vertraut diesen Schlussfolgerungen dann mehr als dem, was die Augen tatsächlich abbilden“, erklärt Schütz. Solch eine Dissoziation zwischen der tatsächlichen Qualität von Informationen und dem subjektiven Vertrauen könne durch gegenwärtige Wahrnehmungstheorien nur unzureichend erklärt werden.
Im Projekt SENCES („Sensation and inferences in perception, metacognition and action“) sollen diese Inferenzen systematisch analysiert werden. „Wir vergleichen unterschiedliche Fälle, in denen fehlende sensorische Informationen durch inferierte Informationen ersetzt wurden und untersuchen sie hinsichtlich ihres Einflusses auf Wahrnehmung, Metakognition und Handlungssteuerung“, erläutert Schütz.
Hierfür werden Wahrnehmungs- und Blickbewegungsexperimente, Elektrophysiologie und Modellierung sowie Untersuchungen mit Patientinnen und Patienten durchgeführt. Dafür kooperiert Schütz unter anderem mit Prof. Dr. Walter Sekundo und Dr. Anke Messerschmidt-Roth von der Augenklinik des Universitätsklinikums Marburg. „Mit unserer Arbeit möchten wir Erkenntnisse darüber gewinnen, wie eine lückenlose Repräsentation unserer Umwelt konstruiert wird und wie die vielen Lücken in der sensorischen Information ‚versteckt‘ werden“, so Schütz. Das Projekt soll außerdem Informationen liefern, inwiefern diese Prozesse auch für die Diagnose und Behandlung von Augenerkrankungen relevant sind.
Quelle: Philipps-Universität Marburg